Wie der Dekonstruktivismus Architektur verändert
Schief, krumm und asymmetrisch: Der Dekonstruktivismus missachtet nahezu alle geltenden Regeln der Architektur – und das mit Erfolg. Was theoretisch als unharmonisch gilt, findet in der Praxis riesigen Zuspruch. Wir erklären, was es mit dem besonderen Architekturstil auf sich hat und zeigen wichtige Werke.
Was ist Dekonstruktivismus?
Der Dekonstruktivismus ist eine architektonische Stilrichtung, die sich von ihren Vorgängern abheben will. Er ist wie eine Flucht aus konservativen Denkmustern, eine Befreiung aus der Postmoderne. Asymmetrische Formen stehen dabei im Fokus – anders als bei anderen Stilen wie beispielsweise der minimalistischen Architektur. Ausübende Architekten reißen sprichwörtlich Wände ein, die der Kreativität im Weg stehen und bauen sie wortwörtlich in abstruser Weise wieder auf. Bauwerke des Dekonstruktivismus führen die bestehenden Gesetze der Architektur damit ad absurdum. Für Betrachter wirken die unkonventionellen Strukturen nahezu grotesk. Gerade deswegen sind sie aber oftmals ein absoluter Blickfang. Dekonstruktivistische Gebäude haben das Potential, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und mit ihrer bloßen Präsenz ein ganzes Stadtbild zu verändern.
Der Ursprung des Dekonstruktivismus in der Architektur
Als erstes Gebäude des Dekonstruktivismus gilt das Wohnhaus des amerikanischen Architekten Frank Gehry. Dieser experimentierte im Jahr 1978 beim Umbau eines Bungalows mit ausgefallenen Elementen, die charakteristisch für den Architekturstil werden sollten. Auch in der Folge setzte Gehry immer wieder neue Maßstäbe mit seinen andersartigen Bauwerken. Einen Namen erhielt der Stil im Jahr 1988 durch die Ausstellung „Deconstructivist Architecture” im New Yorker „Museum of Modern Art“. Dabei wurden die Werke von verschiedenen Architekten vorgestellt, die allesamt zu Ikonen des Dekonstruktivismus wurden.
Architekten des Dekonstruktivismus: Gehry, Libeskind und Co.
Wohl kaum ein anderer ist so bekannt für seine dekonstruktivistische Architektur wie Frank Gehry selbst. Bereits im Jahr 1989 wurde ihm dafür der Pritzker-Preis verliehen, die renommierteste Auszeichnung für Architektur. Der „Gründungsvater“ des Stils ist aber nicht der einzige Architekt, der dem „Chaos“ zugeneigt ist. Ein weiterer Vertreter des Dekonstruktivismus ist der Niederländer Rem Koolhaas, der im Jahr 2000 ebenfalls den Pritzker-Preis erhielt und jüngst den 2020 eröffneten Axel-Springer-Neubau in Berlin konzipierte. Auch die irakisch-britische Architektin Zaha Hadid, die im Jahr 2016 mit nur 65 Jahren an einem Herzinfarkt starb, hatte ein Faible für ungewöhnliche Strukturen. Sie wurde 2004 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet – als erste Frau überhaupt. Zu ihren Werken zählt unter anderem das Science Center phæno in Wolfsburg. Alles andere als ein Unbekannter hierzulande ist darüber hinaus der Pole Daniel Libeskind, der mehr als ein Jahrzehnt in Berlin gewohnt und dort unter anderem das Jüdische Museum gestaltet hat. Alle drei gehörten neben Gehry zu jenen Architekten, deren Werke auch schon damals, im Jahr 1988 in New York ausgestellt wurden.
Werke des Dekonstruktivismus
1. Guggenheim-Museum Bilbao
Eines der berühmtesten Werke Frank Gehrys ist das 1997 fertiggestellte Guggenheim-Museum in Bilbao. In den 25 Jahren seit seiner Eröffnung zählte es insgesamt 25 Millionen Besucher. Damit verhalf es der nordspanischen Stadt zu neuem Glanz. Aus einer einfachen Industriestadt entwickelt sich mit der Zeit eine Kunst- und Architekturhochburg – die Geburtsstunde des sogenannten Bilbao-Effekts. Viele der Besucher des Museums kamen und kommen indes nicht nur wegen der ausgestellten Kunst, sondern vor allem wegen der vom Dekonstruktivismus geprägten Architektur. Die organischen Formen des Gebäudeäußeren setzen sich auch in seinem Inneren fort. Die Räume scheinen geradezu ineinanderzufließen. Seine volle Wirkung entfaltet das Bauwerk aber erst durch seine Beschaffenheit. Es besteht lediglich aus Titan, Glas und Kalkstein.
2. Heydər Əliyev Merkezi
Zaha Hadid ließ ihrer Kreativität unter anderem bei der Planung des Heydər Əliyev Merkezi in Baku freien Lauf. Das 2012 fertiggestellte Kulturzentrum ist eines der wichtigsten Wahrzeichen der aserbaidschanischen Hauptstadt. 2014 wurde es vom Design Museum London als Design of the Year ausgezeichnet. Das Hauptgebäude mit verglaster Front liegt auf einem natürlichen Hügel im Stadtgebiet. Von ihm aus fließen die in weiße Platten gehüllten Strukturen in die nähere Umgebung und werden dort zum Bodenbelag des Vorplatzes. Zwar ist das Gebäude aus architektonischer Sicht ein Meisterwerk. Für ihre Zusammenarbeit mit dem aserbaidschanischen Regime musste sich die Architektin aber auch Kritik gefallen lassen.
3. Seattle Central Library
Wer viel liest, braucht auch viel Licht: Das dachte sich wohl Rem Koolhaas als er die 2004 eröffnete Seattle Central Library entwarf. Mit ihrer aus Stahl und jeder Menge Glas bestehenden Fassade ist sie auch von außen ein echter Hingucker. Doch nicht nur die Materialen sorgen für den futuristischen Charakter des Gebäudes, auch durch ungewöhnliche Vor- und Rücksprünge hebt sich das Gebäude deutlich von den geradlinigen Strukturen in seiner Nachbarschaft ab. Anfangs waren viele Bewohner skeptisch. Für seine Interpretation des Dekonstruktivismus in Seattles Innenstadt erhielt Koolhaas aber nicht umsonst mehrere Auszeichnungen.
4. Zentralgebäude Leuphana Universität Lüneburg
Eines der jüngeren Werke Daniel Libeskinds schmückt den Campus der Leuphana Universität Lüneburg. Das dort im Jahr 2017 fertiggestellte Zentralgebäude ist zweifelsohne Zeugnis des typischen Stils des Architekten, der einst selbst an der Lüneburger Universität lehrte. Es sticht mit seinen abstrakten Formen, dem geschwungenen Dach und der grau schimmernden Titanzink-Fassade deutlich aus seiner Umgebung heraus – die Leuphana liegt auf einem ehemaligen Militär-Areal samt schmuckloser Kasernenarchitektur. Ein wahres Prachtstück, das aber nicht wenige Kritiker hat, unter anderem deshalb, weil der Bau Berichten zufolge fast doppelt so teuer wurde, wie ursprünglich geplant.
5. Groninger Museum
Auch das Groninger Museum ist ein hervorragendes Beispiel für den Dekonstruktivismus in der Architektur. Die Gestaltung des Neubaus, der das ursprüngliche Museumsgebäude ersetzen sollte, übernahm der italienische Designer Alessandro Mendini. Zwar konnten die Kunstwerke schon nach der Fertigstellung im Jahr 1994 umziehen, es folgten im Laufe der Jahre aber noch Ergänzungen zur Gestaltung. Das Gebäude setzt sich aus vielen unterschiedlich geformten Komponenten zusammen. Doch nicht nur die Struktur, sondern auch die bunte Farbgebung verleihen ihm sein unverwechselbares Aussehen.