
Baubotanik: Wenn aus Pflanzen Bauwerke entstehen
Ein Leben im Einklang mit der Natur – dieses Ideal verfolgen viele Menschen. Lebende Bauwerke haben dabei aber wohl nur die wenigsten im Sinn. Doch die Baubotanik macht genau das möglich.
Eine stabile Brücke aus Holz beeindruckt heutzutage kaum. Anders sieht das Ganze jedoch aus, wenn die Bäume für das benötigte Holz nicht etwa gefällt, sondern von der Pike auf so modelliert werden, dass sie im quicklebendigen Zustand zu einer stabilen Konstruktion verwachsen, auf der man bedenkenlos reißende Flüsse überqueren kann.
Solche Techniken, bei denen lebende Pflanzen gezielt in architektonische Strukturen integriert werden, bezeichnet man als Baubotanik. Ziel ist es, Bäume und andere Gehölze so zu formen und miteinander zu verbinden, dass sie stabile, tragfähige Bauwerke bilden – auch abseits vom Brückenbau. Dabei werden biologische Wachstumsprozesse mit ingenieurtechnischen Prinzipien kombiniert und ermöglichen im Idealfall nachhaltige, sich selbst regenerierende Strukturen.
Baubotanik: Ein uraltes Konzept
Die Idee, Bauwerke mithilfe lebender Pflanzen zu errichten hat historische Wurzeln – im wahrsten Sinne des Wortes: Im indischen Bundesstaat Meghalaya zum Beispiel haben einheimische Völker wie die Khasi eine einzigartige Technik entwickelt, bei der sie die Luftwurzeln des Gummibaums (Ficus elastica) nutzen, um stabile Brücken über Flüsse und Schluchten zu bauen. Durch das Lenken und Verflechten der Wurzeln entstehen über Jahre hinweg begehbare Brücken, die den extremen klimatischen Bedingungen der Region standhalten. Einige dieser lebenden Brücken sind über 50 Meter lang und mehrere Jahrhunderte alt.
Auch hierzulande lässt sich vereinzelt noch eine historische Form der Baubotanik bewundern: die sogenannte Tanzlinde. Seit dem Mittelalter wurden Linden in manchen Dörfern Süddeutschlands so geformt und beschnitten, dass in ihren Kronen hölzerne Podeste entstanden, die als Tanzböden für Feste genutzt werden konnten. Zwar hatten die Tanzlinden eher einen kulturellen Zweck, sind aber trotzdem beeindruckende Beispiele für die bewusste Gestaltung von Pflanzen zu architektonischen Zwecken.
Mehr Nachhaltigkeit durch Baubotanik?
Was damals lediglich als Mittel zum Zweck diente oder einen kulturellen Hintergrund hatte, weckt heute vor allem das Interesse all jener, die sich mehr Nachhaltigkeit in der Architektur wünschen. Schließlich ist die Baubranche einer der größten Treibhausgas-Emittenten überhaupt und darüber hinaus für einen extrem hohen Ressourcenverbrauch verantwortlich. Ganz besonders problematisch ist Beton, der immer knapper werdende Sand- und Kiesvorräte weiterschrumpfen lässt und bei dessen Herstellung enorme CO₂-Mengen freigesetzt werden.
Alternativen müssen her! Und da kommt die Baubotanik ins Spiel: Pflanzen sind aus der modernen Bauplanung ohnehin kaum wegzudenken. Sie verbessern die Luftqualität, tragen zur Kühlung urbaner Räume bei und bringen ein bisschen Farbe in manch triste Betonlandschaft. Gleichzeitig binden sie CO₂ und haben damit sogar eine klimapositive Funktion. Als Baumaterial könnten sie darüber hinaus dazu beitragen, langfristig widerstandsfähige Bauwerke zu schaffen, die mit der Zeit immer stabiler werden – zumindest in der Theorie.
Moderne Beispiele für Baubotanik sind knapp
In der Praxis bringt die Baubotanik leider auch einige Nachteile mit sich. Zu denen zählt zum Beispiel die lange Wachstumszeit. An den lebenden Brücken von Meghalaya arbeiten meist ganze Generationen, bis sie fertiggestellt sind. Diese können wohl auch ein Lied vom hohen Pflegeaufwand ihrer baubotanischen Kreationen singen. Hinzu kommt die Anfälligkeit für Umwelteinflüsse wie Schädlinge und die Willkür, die das Pflanzenwachstum mitunter an sich hat. Moderne Beispiele für lebende Bauwerke sind daher rar gesät.
Vereinzelte Versuche gibt es dennoch – zum Beispiel den Platanenkubus in Nagold, der für die dortige Landesgartenschau 2012 errichtet wurde. Dabei handelt es sich, wie der Name vermuten lässt, um einen Würfelbau aus hunderten lebenden Platanen. Mehr als 10 Jahre nach dessen Bau sind die Laubbäume zu einer Einheit verwachsen und haben eine üppige Krone aus sattem Grün gebildet, die eine dreistöckige Stahlkonstruktion in ihrem inneren versteckt und jede Menge Schatten spendet.
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Der Platanenkubus ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie ästhetisch und bereichernd ein lebendes Bauwerk für seine Umgebung sein kann. Ob die Baubotanik aber eine ernsthafte Alternative zu herkömmlichen Bauprozessen darstellt, ist fraglich.