Ikarus: Die Geschichte eines Übermütigen, der zu nah an der Sonne flog
Liebe, Krieg, Versuchung, Verrat – die Motive der griechischen Mythologie sind zeitlos. Deshalb werden ihre Geschichten immer wieder erzählt und neu interpretiert. So auch der Sturz des Ikarus. Wir ergründen den jahrtausendealten Mythos.
Der Name Ikarus dürfte vielen schon zu Ohren gekommen sein. Kein Wunder – denn er taucht in zahlreichen Filmen, Büchern und Liedern auf. In der Regel beschreibt er eine Figur, die zu übermütig ist. Und schließlich aufgrund ihres Strebens nach mehr alles verliert. Worauf basiert diese Erzählung?
Dädalus und Ikarus: Die Vorgeschichte
Die griechische Mythologie ist eine Sammlung, die die zahlreichen Geschichten der Götter und Helden des antiken Griechenlands umfasst. Die Erzählung von Dädalus und Ikarus ist eine von ihnen – wenngleich beide Figuren weder Gott noch Held sind. Es sind gewöhnliche Menschen, noch dazu Vater und Sohn.
Dädalus war ein Erfinder, Techniker und Künstler. So baute er beispielsweise das Labyrinth, in dem der Minotaurus, ein Wesen mit menschlichem Körper und Stierkopf, gefangen gehalten wurde. Er entwarf einen derart verzwickten Irrgarten, dass es ihm selbst nur mit Mühe gelang, den Ausweg zu finden. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass jemand aufgrund seiner Konstruktion zu Schaden kommt.
Mit selbstgebauten Flügeln in den Tod
Nachdem sich Dädalus mit seinen Erfindungen einen Namen gemacht hatte, wurde er gemeinsam mit seinem Sohn Ikarus auf der Insel Kreta gefangen gehalten. Womöglich, weil Minos, der König von Kreta, Dädalus‘ Fähigkeiten für sich nutzen wollte.
Doch dazu kam es nicht, denn Dädalus entwickelte einen Fluchtplan, den er gemeinsam mit Ikarus in die Tat umsetzte. Um die Insel zu verlassen, fertigte er aus Vogelfedern, die er mit Wachs verband, Flügel an – und flog an Ikarus‘ Seite über das Meer. Sie hatten schon einige Inseln überquert, als sich plötzlich eine Tragödie ereignete: Ikarus flog trotz der Warnungen seines Vaters, nicht zu hoch zu steigen, zu nah an der Sonne. Die Hitze ließ das Wachs schmelzen, woraufhin der Junge ins Meer fiel und starb. Das Gebiet, in dem Ikarus in den Tod stürzte, ist bis heute als „Ikarisches Meer“ bekannt. Und die Insel, auf der Dädalus seinen Sohn beerdigt hat, heißt seither „Ikaria“.
Deutung des Mythos: ein Sinnbild des Hochmuts?
Welche Erkenntnisse kann man aus dem Ikarus-Mythos ziehen? Wie lässt sich die Geschichte deuten? In den meisten Interpretationen wird der Absturz Ikarus‘ als Strafe der Götter für dessen Übermut verstanden. Ikarus symbolisiert zudem die menschliche Sehnsucht danach, irdische Grenzen zu überwinden und sich wie ein Gott zu fühlen.
Anstatt Demut und Dankbarkeit für die eigenen Fähigkeiten zu empfinden, strebt Ikarus nach Größerem – und muss für diese Maßlosigkeit bitter bezahlen. Hätte er sich an die Anweisungen seines Vaters, nicht zu hoch zu fliegen, gehalten, wären seine Flügel nicht verbrannt. Der Ikarus-Mythos ist also ein klassisches Beispiel für die Hybris des Menschen und die Gefahren, die von ihr ausgehen.
Adaptionen in der (Pop-)Kultur: von Rubens bis Marsimoto
Das Motiv des stürzenden Ikarus ist seit Jahrhunderten eine Quelle der Inspiration für Kunstschaffende. Erste Malereien, die den Mythos aufgreifen, tauchen bereits Mitte des 15. Jahrhunderts auf. Besonders bekannt ist das Ölgemälde „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“, dessen Urheber nicht eindeutig zuzuordnen ist. Es wird vermutet, dass der flämische Maler Pieter Bruegel der Ältere für mindestens eine Version des Gemäldes verantwortlich ist. Und der bekannte Barockmaler Peter Paul Rubens hat mit „Ikarus‘ Fall“ ebenfalls ein prägnantes Ölgemälde der Szene angefertigt.
Auch in Computerspielen, sowie modernen Filmen und Büchern wird auf den Ikarus-Mythos Bezug genommen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der 1995 erschienene Roman „Die Wachsflügelfrau“ von Eveline Hasler. Darin erzählt die Autorin die Geschichte der Schweizer Juristin Emilie Kempin-Spyri, die in ihrem Heimatland promovierte, dort jedoch nicht als Anwältin praktizieren durfte und schließlich nach New York auswanderte, um ihren Beruf auszuüben. Die Autorin entwarf Kempin-Spyri in dem Roman als weiblichen Ikarus – weil sie für die Zeit, in der sie lebte (1853-1901) – als Frau zu hoch hinaus wollte und an dem erfolglosen Kampf um mehr Ansehen schlussendlich zerbrach.
Nicht zuletzt in der Musik findet der Ikarus-Mythos Einzug – und wird bis heute vielfach besungen. So rappt der deutsche Sänger Marteria unter seinem Pseudonym Marsimoto beispielsweise: „Wer war Ikarus? Ikarus war ne Pfeife, ich flieg‘ Richtung Sonne und schieb‘ sie zu Seite" auf seinem 2012 erschienen Track „Wellness“. Und auch die britische Indierock-Band Bastille greift das Motiv in dem Lied „Icarus“ auf. 2013 singt Frontsänger Dan Smith: „Icarus is flying too close to the sun / Icarus's life, it has only just begun“ (zu Deutsch: „Ikarus fliegt zu nah an der Sonne / Ikarus‘ Leben hat gerade erst begonnen“).
Das nicht abklingende Interesse an dem mythologischen Stoff zeigt, wie bedeutsam und aktuell das Motiv des Hochmuts auch heute ist. Die selbst gebastelten Flügel, die in der gleißenden Sonne Feuer fangen, sind ein bildstarkes Symbol, das den Menschen an seine Grenzen erinnern und zu Genügsamkeit aufrufen soll.