Kingdom of Kush: Ein Königreich für Bir Tawil
Fast jeder Quadratmeter Land auf diesem Planeten gehört zu einem Staat. Nur sehr wenige Territorien sind noch sogenanntes „Niemandsland“. Einer dieser Landstriche liegt zwischen Ägypten und dem Sudan: das rund 2000 Quadratkilometer große Gebiet Bir Tawil. In den letzten Jahren erheben immer mehr selbsternannte Könige Anspruch auf den Wüstenstreifen.
Ende des 19. Jahrhunderts verlegte die britische Kolonialmacht die Grenze zwischen Ägypten und Sudan. Dabei stellte sie die beiden Staaten vor die Wahl zwischen zwei ähnlich kleinen Landstrichen im Grenzgebiet: dem Halaib-Dreieck, das an der Küste liegt, und Bir Tawil, das sich mitten in der Wüste befindet. Jenes der Länder, das das Halaib-Dreieck bekommt, muss auf Bir Tawil verzichten und umgekehrt. Ein fairer Deal, könnte man denken. Doch haben die beiden Grenzgebiete sehr Unterschiedliches zu bieten: Das Halaib-Dreieck überzeugt mit Seezugang, Hafen und immerhin ein paar Straßen und Einwohnern. In Bir Tawil dagegen gibt es im Wesentlichen: Sand. Kaum verwunderlich, dass beide Länder sich für Halaib entschieden und Bir Tawil ablehnten. Bis heute gibt es keine Einigung.
Bir Tawil ist plötzlich begehrt
Das bedeutet allerdings nicht, dass niemand Anspruch auf Bir Tawil erheben würde. Im Gegenteil scheinen seit einigen Jahren immer mehr Menschen weltweit persönliche Pläne für das staatenlose Wüstengebiet zu schmieden. Bei manchen ist offensichtlich eine gewisse Portion Selbstironie dabei, so etwa bei dem 39-jährigen Amerikaner Jeremiah Heaton aus Virginia, der Bir Tawil 2014 bereiste und sogar einen Dokumentarfilm darüber drehte. Er erklärte das Gebiet kurzerhand zum „Kingdom of North Sudan“. Der Grund: Er hatte seiner siebenjährigen Tochter aus einer Laune heraus versprochen, dass sie eines Tages Prinzessin sein werde.
Oder der 24-jährige indische Geschäftsmann Suyash Dixit, der drei Jahre später eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Wüstensand von Bir Tawil streute, eine Flagge daneben in den Boden rammte und auf Facebook erklärte, er sei nun Herrscher des „Kingdom of Dixit“. Offensichtlich meinte er es nicht ganz so ernst, erklärte er doch im nächsten Satz, dass ihm unterwegs fast das Benzin ausgegangen sei und er sicher nicht so bald in diese Einöde zurückkehren werde.
Ein futuristisches Königreich in der Wüste
Aber tatsächlich gibt es auch Pläne, die mit etwas mehr Ehrgeiz geschmiedet zu sein scheinen. Eins davon ist das „Kingdom of Kush“. Man findet über dieses Projekt eine visuell höchst professionell gestaltete Website sowie eine Firmenadresse in New York City. Sobald die Website sich öffnet, befinden sich Besucher*innen auf einer rasanten Fahrt durch eine virtuelle Stadt voller futuristischer Gebäude, die sich spiralförmig rund um Autobahnen voll selbstfahrender Fahrzeuge in den Himmel erheben. Alles in diesem Königreich scheint sauber, effizient und auf dem allerneusten Stand der Technik zu funktionieren. In der Realität kommen Städte wie Dubai oder Singapur diesen Visualisierungen vielleicht noch am nächsten. Sicher ist aber: Die Situation im realen Bir Tawil weicht derzeit deutlich von diesen Bildern ab.
In einem Video auf der Website erklärt ein „Kingdom of Kush Repräsentant“ namens Vincent Washington, dass Bir Tawil ein Gebiet voll ökonomischer Möglichkeiten sei. Es gebe Rohöl, Gold, Chrom und andere Rohstoffe in so großen Mengen, dass Investor*innen hier ein gutes Geschäft machen könnten. Wasser könne unter anderem aus Entsalzungsanlagen vom Hafen von Halaib aus ins Kingdom of Kush gebracht werden. Und wer noch nicht überzeugt ist, horcht vielleicht auf, wenn Washington erklärt: „Wie Bir Tawil war Dubai einst ein Niemandsland, in dem ein paar Nomadenherden umherzogen.“ Das habe sich schlagartig geändert, als 1966 Öl in der Wüste Dubais gefunden wurde. In kürzester Zeit sei Dubai zu einem fortschrittlichen Wunderland smarter Technologien geworden – und natürlich zu einem Paradies für Investor*innen. Eine Blaupause für Bir Tawil?
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Einbürgerung für 120.000 US-Dollar
In enthusiastischen Werbetexten preist die Website das Kingdom of Kush zudem als soziales Entwicklungsprojekt an. Das Land soll innovative Infrastruktur, nachhaltiges Wohnen, erneuerbare Energie und sauberes Wasser in die Region bringen. Das neugegründete Königreich soll außerdem eine Zuflucht für die afrikanische Diaspora sein und zugleich ein Ort gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Vielfalt – menschenfeindliche und diskriminierende Positionen würden im Kingdom of Kush nicht akzeptiert, so heißt es.
Wer nun überzeugt ist und im Kingdom of Kush leben möchte, erfährt auf der Website, dass eine Einbürgerung problemlos möglich sei – vorausgesetzt, man hat 120.000 US-Dollar übrig. Dann nämlich kann man sich als Investor beteiligen, über ein Online-Formular die Staatsbürgerschaft für das Kingdom of Kush beantragen und erhält sogar einen Pass für die neue Zweitheimat. Ihre bisherige Staatsbürgerschaft dürften Neubürger*innen des Kingdom of Kush darüber hinaus behalten.
Science Fiction-Utopie oder Realität?
Aber was erwartet einen denn vor Ort nun genau? Gibt es immerhin schon einen Grundstein für die ehrgeizigen Pläne auf der Website? Wenn schon keinen Flughafen, vielleicht wenigstens ein Wegenetz? Und: Reicht das Wasser aus der Entsalzungsanlage künftig tatsächlich für derart viele hochmoderne Gebäude und Menschen? Vorhanden sein soll laut Webseite immerhin eine Pressestelle für das Projekt – wer einem dort von wo aus antworten soll, bleibt unklar. Denn auch nach mehr als einer Woche reagiert noch niemand auf Nachfragen per Mail: Wie viele Menschen schon ins Kingdom of Kush investiert haben, welche Infrastruktur bisher vorhanden sei, was eigentlich Sudan und Ägypten zu den Plänen sagen. Und naja, welche Staatsform das neue Königreich haben soll – soll da tatsächlich jemand König werden? Und wenn ja, wer? Keine Antwort.
Auch führenden Geografen mit Afrika-Schwerpunkt aus dem deutschen Sprachraum scheint das Projekt bisher nicht bekannt zu sein. Auf Nachfragen, was aus Expertensicht von den Plänen zu halten sei, fallen Begriffe wie „dubios“ und „undurchsichtig“. Direkt zitieren lassen möchte sich niemand.
Und so bleibt wohl vorerst nur ein Traum: Dass die nachhaltige Science Fiction-Utopie voll weltoffener und technikaffiner Millionär*innen aus allen Ecken Afrikas und der Welt sich eines Tages in ein reales Projekt zum Wohle der Menschheit verwandeln möge. Dafür müsste natürlich erst einmal eine Frage geklärt sein: Wem gehört Bir Tawil eigentlich?